Der Himmel über dem Kongo hängt voller Stimmen

78 heimische Fernsehketten, 195 Radiostationen, mindestens 50 Fluglinien und zig Millionen Mobiltelefone: Der Himmel über dem Kongo hängt voller Stimmen. Und jede hofft auf ruhigere Zeiten, gerade jetzt, drei Wochen nach der ersten demokratischen Wahl.

Von Georg Brunold, Die Weltwoche, 24.08.2006

Ja, gewiss, Monsieur, sagt die Frau hinter dem winzigen Fensterchen. Ich stehe im Schalterhäuschen neben dem alten flämischen Bahnhofsgebäude von Kinshasa. Ja, es fährt ein Expresszug hinunter nach Matadi, zur Hafenstadt. Alle vierzehn Tage, der nächste morgen früh um 7 Uhr 30. Gleich am ersten Tag nach der Ankunft im Kongo habe ich mich erkundigt, und unter diesen Umständen verliere ich keine weitere Stunde und finde mich pünktlich, wie geheißen, um 6 Uhr 30 auf dem Perron ein. Der Funktionär, der mich dort empfängt, muss schon auf mich gewartet haben, und durchs Gras gehen wir über die Gleise zu einem verlassenen Schuppen. In dem Büro, das der Mann aufschließt, liegt auf dem Pult ein dickes Buch, in dem nun die Personalien des Ausländers registriert werden. Schon trägt mein Bahnbillett den unabdingbaren Stempel der DGM (Direction Générale de Migration), die alle Personenverschiebungen im Land festhält. Bis nach Banana und Muanda an der Atlantikküste werde ich in den nächsten Wochen von der DGM noch mindestens ein halbes Dutzend Mal begrüßt werden. Wo vom Staat meistenteils nur ferne Erinnerungen übrig sind, multiplizieren sich dessen in Eigeninitiative tätige Organe.

Erster Massenmord der Moderne
Auf dem Bahnsteig werde ich nun Monsieur Touta vorgestellt. Ginge es nach den Gerüchten, müssten diese Züge steckenbleiben, um tief in der Nacht und ohne Strom von einer oder mehreren lokalen Banden ausgeraubt zu werden. Da kann es nicht schaden, wenn der Zugführer das Wohl des Fahrgasts seiner persönlichen Zuständigkeit unterstellt hat. Entsprechend hat Serge vorgesorgt und gestern Abend eine Tante vom Onatra (Office national des transports) angerufen, die ihm den Namen von Zugführer Touta gegeben hat. Serge Mayamba, für die Dauer dieses Besuchs im Kongo mein Privatsekretär, ist im Hauptamt nationaler Jugendsekretär der Oppositionspartei UDPS (Union pour la démocratie et le progrès social). Alle rufen ihn «Lumumba», so sein nom de guerre als ehemaliger Studentenführer. Mit der Autorität seines Amts wird «Lumumba» sicherstellen, dass in Matadi ein regionaler Jugendsekretär der UDPS am Bahnhof auf mich warten wird.

Die Waggons der 2. Klasse belegen großteils Polizisten, fabrikneu eingekleidet in einem gediegenen Dunkelblau, in der rechten Hand eine Flasche Primus (70 cl) der Brauerei Bralima, im linken Arm ihre Kalaschnikow. Die 1. Klasse funktioniere nicht, hat die Frau am Schalter gesagt und nicht gewusst, dass den Zug ein waggon luxe anführt, eisgekühlt climatisé, ein donnernder Fernseher an jedem Ende. Die zehn Stunden dauernde Fahrt durch 380 Kilometer Busch und Jungwald, unterbrochen von Stopps an elf oder zwölf der drei Dutzend Bahnhöfe, verrät nichts vom erst drei Jahre zurückliegenden «Weltkrieg Afrikas». Kongos bisher letzter Krieg von 1998 bis 2003 wird so genannt, weil er sieben ausländische Armeen ins Land gebracht hat. Nichts erinnert an eine Opferbilanz von drei bis vier Millionen Toten, zu der sich direkte und indirekte Wirkung der Gewalt binnen fünf Jahren summierte, und nichts an das humanitäre Desaster der Kriegsfolgen, die bis heute täglich tausend Menschenleben fordern. Nirgendwo wachsen aus Hausdächern Bäume, wie das nach über zwanzig Jahren Krieg im Südsudan der Regelfall ist.

Doch der Zug rollt auf einer in viel Blut getränkten Trasse: König Leopolds Bahn erreichte nach achtjähriger Schinderei, die Tausende unter den in Ketten hergeschleppten Arbeitern nicht überlebten, 1898 ihre Endstation in Léopoldville, das seit 1966 Kinshasa heißt. Der große Fluss, der zwischen Kinshasa und Matadi in Afrikas gewaltigsten Katarakten 270 Meter Höhe verliert, ist erst von der Hauptstadt flussaufwärts für rund 1700 Kilometer schiffbar. Diese Bahn durchbrach den Riegel, der bis dahin das innere Zentralafrika gegen die Atlantikküste im Westen verschlossen hatte, und schuf so die Voraussetzung für den ersten, mit den technischen Mitteln eines modernen Industriestaats ausgeführten Massenmord des zwanzigsten Jahrhunderts. Leopolds Freistaat, Privatbesitz des belgischen Königs in Afrika, verwandelte das gesamte heutige Staatsgebiet des Kongos in einen einzigen Gulag von Zwangsarbeit und Tod. Das System brutalster Ausbeutung reduzierte in den dreißig Jahren von 1890 bis 1920 die Bevölkerung um mindestens die Hälfte und kostete somit um die zehn Millionen Menschenleben.

Man darf nicht glauben, dass diese im Organisationsgrad der Gewalt einzigartige Episode europäischer Kolonialgeschichte dokumentiert auf Zelluloid dank der bereits existierenden industriellen Chemie von Agfa aus dem lebendigen Gedächtnis der Bevölkerung gelöscht ist. Von den Fünfzigjährigen aufwärts kennen Kongolesen die Gräuel aus der Schilderung von Augenzeugen aus der Generation ihrer Großeltern. Es ist dieselbe Geschichte, die im Kongo weiter fortschreitet: die Geschichte eines Landes, auf dem der Fluch eines ungeheuren Reichtums lastet. Der Run auf Kautschuk und Elfenbein wurde bald abgelöst durch die Hüttenindustrie: Gold, Kupfer, Kobalt, Zinn, Zink, Mangan, Kassiterit, Colombo- Tantalit, Uran. Rund die Hälfte aller seit 1930 weltweit abgebauten Industriediamanten stammt aus dem Kongo. In den ersten drei Jahren des jüngsten Krieges (von 1998 bis 2001) gingen gemäß Schätzungen einer Uno-Expertenkommission Bergbaueinrichtungen im Wert von rund 4 Milliarden Franken vom kongolesischen Staat in private Hände über unter höchst dubiosen Umständen. Das meiste Geld kam nie bei den staatlichen Institutionen an, sondern verschwand in den Taschen schlauer Profiteure und Vermittler.

Hafenprivilegien
Auch für Kongos Nachbarstaaten stellen die Schätze des Landes eine Versuchung dar, der sie nicht widerstehen konnten. Im Jahr 2001, als der Krieg besonders heftig wütete, verbuchte die Kongoabteilung im ruandischen Verteidigungsministerium in Kigali aus dem ruandischen Einflussbereich in den ostkongolesischen Rebellengebieten stammende Eingänge von 550 Millionen Franken. Dieser Betrag überstieg das Total von Ruandas sämtlichen Importen in diesem Jahr, das wiederum etwa dem Vierfachen der Exporte entsprach. Die Invasoren der ruandischen und ugandischen Armee überzogen mit ihren einheimischen Handlangern ein Drittel des Landes mit Mord, Vergewaltigung, Plünderung und Zwangsarbeit. Die Bevölkerungsmehrheit ganzer Provinzen wurde aus den Häusern und von ihrem Land vertrieben. In Ituri, Kivu und Maniema haben je nach Landstrich 50 bis 85 Prozent aller Einwohner mindestens einmal die Erfahrung der Vertreibung gemacht.

Sein Name sei Monsieur Michel, hat sich der regionale Jugendsekretär der UDPS auf dem Perron von Matadi mir vorgestellt. Noch 46 Jahre nach der Unabhängigkeit halten Kongolesen mit dieser etwas steifen Formel fest, dass Eingeborene vom Europäer nicht mehr automatisch geduzt werden. Michel, 32, verdient als einheimischer Kadermann der französischen Transportfirma Agetraf 350 Franken im Monat, und sonntägliche Sondereinsätze im Hafen bieten ihm die Möglichkeit, etwas dazuzuverdienen.

Das Budget 2006 der Demokratischen Republik Kongo umfasst Ausgaben von gut 2,5 Milliarden Franken, zu 57 Prozent aus internationalen Mitteln finanziert. Die öffentliche Hand dieses Staats mit seinen 58 Millionen Einwohnern verfügt damit über etwas mehr als ein Drittel der Finanzkraft der Stadt Zürich, deren Aufwand für das laufende Haushaltjahr mit 7,1 Milliarden Franken budgetiert ist. 98 Prozent seiner Mittel gibt der kongolesische Staat in der Hauptstadt Kinshasa aus, wo sieben oder acht der 58 Millionen Kongolesen leben. Für die übrigen 50 Millionen Kongolesen bleiben demnach 50 Millionen Franken oder 1 Franken pro Kopf und Jahr. Matadi, Kongos wichtigster Hafen und Tor zur Welt, macht freilich eine Ausnahme. Kaum jemand von Matadis halber Million Einwohner möchte lieber anderswo im Land leben, nicht einmal in Kinshasa. Nach Schätzung der Uno erreichen im Kongo nur 20 bis 40 Prozent der geschuldeten Zollabgaben den Staat. Das Übrige regelt sich unter der Hand, und der Hafen von Matadi ist die ergiebigste einzelne Quelle dieses Cargo-Segens.

Fahrzeuge können im Hafen von Matadi keine geklärt werden. Die einzige Brücke ist nicht einsatzfähig, und die Reparatur eilt offenbar nicht zu sehr. Davon profitiert 100 Kilometer weiter unten am Fluss der kleinere Hafen von Boma, einst die erste Hauptstadt von Leopolds Kongo-Freistaat. Auf dem Erdboden wie auf den Wasserwegen sind Kongos Kontakte zur Außenwelt seit längerem erschwert. Am Atlantikstrand zwischen Muanda und Banana hat Chevron Texaco zwar zwanzig Kilometer Küstenstraße asphaltiert. Aber die gut 100 Kilometer von Boma nach Muanda mit seinen 130 000 Einwohnern bewältigen nur Geländevehikel und Lastwagen. Die PKWs in Muanda stammen aus der benachbarten angolanischen Exklave Kabinda, die im Gegengeschäft von Muanda aus mit billigem Bier aus dem 600 Straßenkilometer entfernten Kinshasa versorgt wird. (Das restliche Angola importiert noch immer portugiesisches.) Die Infrastrukturprobleme, die chronische Überlastung und Verstopfung der Häfen von Matadi und Boma tragen zwar nicht zum Wohl des Landes bei, mehren aber nicht abgerechnete lokale Einkünfte.

Im Bas-Congo, der Provinz am Unterlauf des großen Flusses und dem besten Kongo, den es gegenwärtig gibt, finden sich weder pakistanische UN-Truppen noch große westliche Hilfswerksaufgebote. Die Kirchen als beständigste Einrichtungen in solchen Gegenden Afrikas, mit den günstigsten Schulen auch, welche die Eltern im glücklicheren Fall nicht ganz allein bezahlen müssen, haben kongolesisches Personal. Die Einheimischen sind unter sich, besonders am heutigen Nationalfeiertag, auf den das Wochenende folgt. Die Läden sind zu, und so fehlt auch von den libanesischen und indischen Händlern jede Spur. Den nächsten Weißen kriege ich in fünf Tagen zu Gesicht: den Piloten und Besitzer der Fluggesellschaft Filair, mit deren Beechcraft ich von Muanda in die Hauptstadt zurückfliegen werde. Man reist weit in Afrika, bis man weißhäutige Artgenossen gleich für mehrere Tage aus den Augen verliert.

Vierhundert Ethnien
In Matadi und Umgebung gibt es Einheimische, die sich selbst für noch viel einheimischer halten als die allermeisten anderen hier ansässigen Kongolesen. Kein Wunder angesichts ihrer privilegierten Lage. Zu ihnen gehören die Anhänger der religiös-politischen Sekte Bundu dia Kongo. Ihr Ziel ist die Befreiung des alten Königreichs Kongo, dessen Volk durch die Kolonialgeschichte auf drei heutige Staaten verteilt wurde: Angola im Süden, den ehemals belgischen Kongo-Kinshasa in der Mitte und den ehemals französischen Kongo- Brazzaville im Norden. Ihr zerrissenes Volk, so finden sie zudem, dürfe nicht ewig unter den zweieinhalbtausend Kilometer entfernten Kriegen um die Minen im Osten, in Katanga, Kivu und Ituri, zu leiden haben. Sie sehen sich vom eigenen Staat, obschon es diesen eigentlich fast nicht gibt, nicht nur marginalisiert, sondern obendrein kolonisiert. Die Fremdenfeindlichkeit, mit der sie dessen angebliche Organe bekämpfen, haben sie mit einem okkulten Programm der Rückkehr zu urafrikanischer Spiritualität und urafrikanischen Gottheiten unterlegt. Nebenbei suchen sie nach dem Vorbild nigerianischer Rebellenmilizen im Nigerdelta die kongolesischen Ölförderanlagen an der Atlantikküste zu sabotieren.

In diesem Riesenland, auf dessen 2,4 Millionen Quadratkilometern ganz Westeuropa oder Indien zu drei Vierteln unterkäme, sind allerdings auch die Kongo nur eine von mehr als vierhundert ethnischen Gruppen mit noch immer gegen dreihundert lebendigen Sprachen. Keine der Ethnien erreicht einen Bevölkerungsanteil von zehn Prozent, und natürlich kann ein Sezessionsprogramm für eine von ihnen nur als Hochverrat gelten. Als an diesem 30. Juni, dem 46. Jahrestag der Unabhängigkeit und offiziellen Beginn des Wahlkampfs, die Bundu dia Kongo sich in Matadi zu einer Kundgebung versammeln, feuert die Polizei in die Menge und erschießt elf, zwölf oder vierzehn Manifestanten im Krankenhaus steigt noch einige Tage lang die Zahl der Opfer.

Dreißig Tage Wahlkampf zur ersten demokratischen Wahl im unabhängigen Kongo sind damit losgegangen: 9500 Kandidaten von 269 Parteien bewerben sich um 500 Parlamentssitze. In gewissen Wahlkreisen von Kinshasa haben die Wähler ihre Favoriten unter 800 Namen aufzuspüren, auf Listen von sechs Blatt, größer als DIN-A3. Der amtierende Präsident Joseph Kabila, Sohn des 2001 von einem Leibwächter erschossenen Laurent Kabila aus der südwestlichen Bergbauprovinz Katanga, geht gegen 32 Rivalen ins Rennen um das höchste Staatsamt. Es ist die erste pluralistische Wahl im Land, seit die Belgier im Mai 1960, dem vorletzten Monat vor der Unabhängigkeit, als Abschiedsgeschenk ihre Kolonie ein Parlament wählen ließen, das den wenig später ermordeten Nationalisten Patrice Lumumba zum ersten Regierungschef des unabhängigen Kongo kürte.

Vereinigt kein Präsidentschaftsanwärter mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich, haben die beiden Spitzenreiter zu einer zweiten Runde anzutreten, in der am 29. Oktober zugleich die Provinzparlamente gewählt werden. Gegen Ende November spätestens sollte das neue Staatsoberhaupt des Kongos bekannt sein. Bis dahin herrscht auf sämtlichen Ämtern noch der alte Hochbetrieb der Selbstbereicherung ohne demokratische Legitimation. Eilig hat es denn auch niemand außer den Gebern, denen die Uno-Friedensmission Monuc (Mission de l'Organisation des Nations Unies en République Démocratique du Congo) mit 1,3 Milliarden Franken im Jahr auf die Dauer zu teuer erscheint. Mit etwas über 17000 Blauhelmen ist die Monuc das größte Truppenaufgebot in der Geschichte der Vereinten Nationen nach dem Einsatz im Koreakrieg. Die Kosten des nach dem ursprünglichen Fahrplan um ein Jahr verspäteten Urnengangs werden mit rund 550 Millionen Franken veranschlagt. Pro Kopf der 26 Millionen registrierten Wähler gerechnet, soll das ein Drittel weniger sein als bei Afghanistans Wahlen vorletztes Jahr.

Zerquetschte Finger auf Asphalt
Unterdessen wird alle paar Tage, wenigstens in der Hauptstadt, unter Führung von Angehörigen der oppositionellen UDPS demonstriert: Die größte Partei im Land boykottiert die Wahl mit der recht einleuchtenden Begründung, dass die politischen Umstände und die Mängel bei der Vorbereitung eine faire demokratische Wahl ausschlößen. Ihr 75-jähriger Führer Etienne Tshisekedi war vor dem Krieg der große Herausforderer des 1997 nach 32 Amtsjahren gestürzten Mobutu Sese Seko. Gemeinsam mit diesem wurde er von der Rebellenarmee unter Kabila senior von der politischen Bühne gefegt. Den Beweis, dass Tshisekedi tatsächlich der «Vater der kongolesischen Demokratie» ist, für den er sich ausgibt, bleibt er schuldig, stellt dafür aber einstweilen sicher, dass ihm kein Beweis des Gegenteils unterlaufen kann. Hart trifft der Wahlboykott seine Partei, die respektabelste politische Kraft im Land, die nach allem leider wohl der Opfermasse des Kriegs zuzurechnen ist. Derzeit reißen seine Anhänger in der Innenstadt da und dort ein Wahlposter Kabilas von der Hausmauer, und am folgenden Tag zeigen die Zeitungen Fotos von abgehackten, halb zerquetschten Fingern auf dem Asphalt die Antwort der Polizei von Präsident Kabila. Serge «Lumumba» hat als Jugendsekretär der UDPS eines der Opfer im Spital besucht und bestätigt, dem Mann habe eine Hand abgenommen werden müssen, an der anderen verbleiben ihm noch Daumen und zwei Finger.

Wie «Lumumba» ist Michel aus Kananga, der Hauptstadt der Provinz Kasaï-Occidental. Michel verließ 1996 als 22-Jähriger das Elternhaus und hat in Matadi Karriere gemacht. Zu Hause ist er seither nie gewesen, und nur einmal in den zehn Jahren, im Jahr 2000, kam seine Mutter zu Besuch nach Matadi. Was die Verkehrsverhältnisse angeht, sind Kongos urbane Zentren mit den Inseln im Südpazifik zu vergleichen. Kein praktikabler Landweg führt von Kananga zur 1100 Straßenkilometer entfernten Hauptstadt, Lastwagen schaffen fünfzig Kilometer am Tag und sind drei Wochen unterwegs. Ein Flugticket ist unerschwinglich oder aber eine Investition fürs Leben, und hat einer seine Heimat einmal verlassen, um in einer anderen Provinz ein Auskommen zu suchen, ist er ausgewandert in des Wortes alter Bedeutung. Der Schritt ist meist unwiderruflich. Der kongolesische Luftverkehr ist nicht bloß teuer, sondern in diesem Himmel voller kasachischer Antonows aus sowjetischer Zeit obendrein gefährlich. Eine offizielle Liste vom April führt weltweit 92 Fluggesellschaften, denen jeder Besuch im EU-Luftraum untersagt ist; nicht weniger als fünfzig davon sind im Kongo zu Hause. Monatlich stürzen über dem Kongo Flugzeuge ab.

In Michels Dreizimmerhaus, das ihn 100 Franken Miete kostet, hat sich der Nachzug aus seiner Familie in Kananga ausgeweitet. Nebst seiner Frau und den eigenen vier Kindern wohnen bei Michel zwei jüngere Schwestern, zwei jüngere Brüder sowie mit weiteren drei Kindern die Frau von Michels älterem Bruder, der in Brüssel auf die Gelegenheit wartet, seine Familie nachzuziehen. Vierzehn Personen sind das insgesamt: «La solitude n'est pas pour nous», sagt Michel, Einsamkeit ist nicht unsere Sache.

Handys wichtiger als Schuhe Dabei sind in diesem noch jungen Jahrhundert doch auch Kananga und Matadi wieder näher zusammengerückt. Wenigstens im Himmel über den Köpfen, wo sich im ganzen Land nicht nur der Personen- und Güterverkehr abspielt und derzeit auf 10 000 Transparenten der Wahlkampf. Wenn, dann jedenfalls im Himmel über den Köpfen muss auch die baldige Ankunft der versprochenen lichten Zukunft nach den Wahlen zu beobachten sein. Nebst der handfesten Biomasse von Afrikas halbem Regenwaldbestand kennt der Kongo nämlich ätherischere Schichten und einen, wenn nicht sogar mehrere Himmel voller Stimmen, und zwar von einem bis zum anderen Ende. Während 78 einheimische Fernsehketten und 195 Radiostationen auf Sendung sind, telefoniert sich nicht nur der Sekretär «Lumumba», sondern die ganze Nation tagaus, tagein bankrott. Fürs kongolesische Fortkommen ist das Handy wichtiger als Schuhe, eine SIM-Card kostet 3 Franken 50, und jedermann ist mit mindestens je einer von Celtel und Vodacom unterwegs.

Maurice, der Kellner des Hotels «Excelsio», der mich in seiner Zimmerstunde zur 1890 erbauten ersten flämischen Kathedrale von Boma und anschließend zum alten Flusshafen begleitet, weiß nicht, welchem der 33 Präsidentschaftskandidaten er seine Stimme geben soll. Jean-Pierre Bemba, dem im Krieg mit Uganda verbündeten Warlord aus der Provinz Equateur, dessen Vater Mobutus finanzkräftigster Geschäftspartner war? Bembas Rebellentruppen wird nachgesagt, sie hätten im Krieg Pygmäen verspeist, was ihrem Chef noch Schwierigkeiten mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eintragen könnte. Oder Pierre Pay Pay, Mobutus ehemaligem Zentralbankgouverneur? Oder dem wegen Korruption gefeuerten Ex-Bergbauminister Diomi Ndongala, wenigstens ein waschechter Kongo wie Maurice selbst? Justine Kasavubu, der Tochter des ersten Präsidenten, Joseph Kasavubu, gebürtig aus Boma? Eine Frau, sagt Maurice, behaupte sich nicht im Haifischteich an der Staatsspitze in Kinshasa. Zudem empfiehlt Frau Kasavubus ältere Schwester, Kabila zu wählen. Warum nicht den unbescholtenen Kardiologen und Harvard-Absolventen Oscar Kashala? Dessen ausländische Leibwächter wurden von Kabila erst als Putschisten in Haft gesetzt und dann als Söldner des Landes verwiesen, was dem in den USA lebenden Kashala unverhofft und gratis eine Riesenpublizität bescherte.

Der göttliche Kabila
Nein, wie viele im Kongo ist Maurice stattdessen empfänglich für die von Kabilas staatlichen Medien verbreitete These, wonach der künftige Friedenspräsident nur der bisherige Friedenspräsident Kabila sein könne. Joseph hat angeblich aus dem unglücklichen Exempel von Vater Laurent gelernt. Die Kampagne des 35-jährigen Amtsinhabers will glauben machen, dieser habe schon vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Sun City im April 2002 nicht lediglich an der Spitze einer der kriegführenden Parteien gestanden, sondern von jeher Kongos souveräne und legitime Staatsmacht verkörpert. Gab es je Zweifel an seinen Prioritäten, dann hat er diese ausgeräumt: Kabila setzt alles daran, seinen Verbleib im höchsten Staatsamt sicherzustellen. Dem Land zu fairen, transparenten Wahlen und damit zum Neubeginn unter einer demokratisch legitimierten Regierung zu verhelfen, mag zwar auch ein deklariertes Ziel Kabilas sein. Wenn dieses jedoch mit dem vorrangigen Ziel der Machterhaltung kollidiert, wird es geopfert.

Bis jetzt trifft Kabila keine Anstalten, seine 15 000 Mann umfassende Präsidialgarde in die ordentlichen Streitkräfte zu integrieren. Dass die Reform und Integration der ehemaligen Rebellenarmeen ein Jahr hinter dem Fahrplan herhinkt, scheint ihm dabei entgegenzukommen. Sicherheit bleibt das Hauptproblem großer Landesteile im Osten wie auch in Katanga. Ungenügend ausgebildete, mangelhaft ausgerüstete und versorgte, immer wieder um ihren Sold geprellte Truppen sind mindestens ebenso sehr Teil des Problems wie Teil der Lösung. Die International Crisis Group, ein unabhängiger, in Brüssel beheimateter Think-Tank, rechnet vor, dass die achtzehn vorgesehenen Brigaden seiner neuen Streitkräfte den kongolesischen Staat pro Brigade und Monat 270 000 Franken kosten würden: die gesamte Armee demnach rund 60 Millionen Franken im Jahr. Gemessen am Jahresaufwand der Uno-Mission in Höhe von 1,3 Milliarden Franken, nimmt sich dieser Betrag äußerst bescheiden aus. Aber wenn dieses Geld erst einmal zusammengekommen ist, verschwindet ein erheblicher Teil davon auf dem Weg zu den Truppen.

Kabilas Präsidialgarde ermöglicht ihm, als einziger Bewerber im ganzen Land auf Wahlkampftournee zu gehen. Obendrein schüchtern seine Sicherheitsleute Kabilas Gegner und deren Anhänger ein. Das staatliche Fernsehen funktioniert wie eh und je als ein Monopol des Staatschefs. Derweil bleiben die Erfahrungen des kongolesischen Volkes mit der sogenannten internationalen Gemeinschaft, milde ausgedrückt, höchst zwiespältig von den portugiesischen Sklavenhändlern und belgischen Kolonisten bis in die Zeit der Monuc. Bereits im Februar 2000 hatte der Sicherheitsrat die Friedensmission mit dem Schutz der Zivilbevölkerung beauftragt und sie ausnahmsweise mit einem entsprechend weitreichenden Mandat unter Kapitel VII der Charta versehen. Sie ist zum Einsatz angemessener Mittel der Friedenserzwingung einschließlich Waffengebrauchs ermächtigt. Doch es verstrichen fünf Jahre Passivität, unterbrochen von Sexskandalen, ehe die Verantwortlichen der Uno von ihren Vollmachten Gebrauch machten.

Und acht Jahre Wirtschaftspolitik: ein Skandal
Auch die westlichen Geber haben sich von den eigentlichen Nöten des Kongos bis heute nie allzu sehr aufwühlen lassen. Von 1976 bis 1990 wurde der Diktatur von Mobutus Staatspartei, der alle Kongolesen von Geburt angehörten, die barmherzige Geduld von vierzehn Umschuldungsrunden zuteil, bis die Last auf 14 Milliarden Dollar angewachsen war, zum heutigen Kurs 17 Milliarden Franken. Dann war der Kalte Krieg zu Ende. Das strategische Interesse des Westens wich dem Heißhunger transnationaler Hüttenkonsortien, die seither, von ihren Regierungen weitgehend unbeaufsichtigt, zwischen Kongos Ruinen ihren Geschäften nachgehen. Ihre Joint Ventures sind in der Regel so konstruiert, dass aus dem Ertrag der einheimischen Partnerfirma die Betriebskosten im Land bestritten werden, während der Gewinn von der ausländischen Firma abgeschöpft wird. Wenig bis gar nichts davon bleibt im Land.

Das auf das Friedensabkommen von Sun City hin aus den Konfliktparteien berufene provisorische Parlament hatte eine Kommission gebildet, die sämtliche in den beiden Kriegen von 1996/97 und 19982003 unterzeichneten Vereinbarungen zwischen dem Staat und privatwirtschaftlichen Akteuren auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen sollte. Die Ergebnisse präsentiert der nach dem Kommissionspräsidenten benannte 271seitige «Lutundula-Bericht», der seit Ende Juni letzten Jahres dem Parlamentspräsidenten vorliegt und auf starken Druck hin im Februar schließlich veröffentlicht wurde. Sie sind dermaßen skandalös, dass dasselbe Parlament, das den Bericht in Auftrag gegeben hatte, sich außerstande sah, darauf einzugehen. Über ein Jahr später liegt der Bericht immer noch in der Schublade.

Vorbildliches Wahlvolk
Die Geberländer haben sich dadurch nicht genieren lassen und zumindest im Fall der drei wichtigsten Partner Belgien, Frankreich und USA Joseph Kabila längst gewählt. Am beredtesten spricht für sie Louis Michel, ehemaliger liberaler Vizepremier und Außenminister Belgiens, heute EU-Kommissar für Entwicklung, geboren in Katangas Hauptstadt Lubumbashi. Für Louis Michel repräsentiert Joseph Kabila die «Hoffnung Kongos». Frankreich seinerseits sucht in jedem afrikanischen Staat gewohnheitsmäßig größtmögliche Nähe zur Macht. Im Kongo hielten auch die USA seit Mobutus Machtübernahme 1965 immer dem Amtsinhaber die Stange, auch als er später zuerst Laurent und dann Joseph Kabila hieß. Währenddessen trifft man in Kinshasa auf westliche Diplomaten, die durchaus ein nur allzu reales Risiko sehen, dass nach einem Triumph Kabilas und seiner politisch-militärischen Katanga-Mafia, die sich des jungen Staatsoberhaupts bisher ziemlich diskret bedient hat, dieser erste Versuch einer freien und fairen demokratischen Wahl im Kongo für längere Zeit der letzte bleiben könnte.

Das kongolesische Wahlvolk hat am 30. Juli den Weg in Richtung versprochenen demokratischen Kongo mit großem Enthusiasmus und vorbildlicher Disziplin unter die Beine genommen. Die Ergebnisse der ersten Wahlrunde vom 30. Juli, zusammengetragen aus 51 000 Stimmbüros in 169 Wahlkreisen, werden am 20. August bekanntgegeben. Kabila hat knapp 45 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Sein schärfster Konkurrent, Ex-Warlord Jean-Pierre Bemba, ist auf 20 Prozent gekommen. Im Hinblick auf den Ausstich Ende Oktober ist die große Frage, welche unter den eliminierten Rivalen ihrer Anhängerschaft Kabila empfehlen werden. Einige könnten ihm ihre Benachteiligung im Wahlkampf nachtragen. Vieles bleibt möglich im Kongo der kommenden Monate, auch ein sehr knapper Ausgang, angesichts dessen ein Verlierer das Resultat nicht akzeptieren wird. Bereits sind die Truppen der Monuc zum ersten Mal auf ihre Robustheit geprüft worden. Kaum sind die Wahlresultate bekanntgegeben, kommt es zu tödlichen Scharmützeln mitten in Kinshasa. Und am Tag darauf beschießen Kabilas Präsidialgarden Bembas Residenz, wo dieser sich mit ausländischen Diplomaten aufhält. Kinshasas Bevölkerung hält den Atem an, als die Uno-Soldaten die Lage fürs Erste wieder unter Kontrolle bringen können. Auch ein Sieg Kabilas im Herbst wird dem Land keine Regierung mit einwandfreier demokratischer Legitimation bringen. Serge «Lumumba» in Kinshasa, Michel in Matadi und die übrigen Boykotteure sind derweil doppelt bestraft: Ihre Abstinenz geht zu Lasten von Kabilas Gegenspielern und schlägt zu dessen Gunsten aus.

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Georg Brunold war langjähriger Afrika-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Im Mai erschien «Ein Haus bauen. Besuche auf fünf Kontinenten». Eichborn. 349 S., Fr. 56.